Ethnologische Beschreibung

Der königliche Landgerichtsbezirk Regen von 1860


Geistige Constitution

»Gesunder Verstand und leichter Begriff ist dem Waldler eigen, besonders wenn es sich um seinen Nutzen und Vortheil handelt. An Unternehmungsgeist aber leidet er großen Mangel. Den Wechsel der Verhältniße zu studiren und in die Ferne zu sehen, zu spekuliren, das ist kein hervorragender Zug von ihm. Er lebt ziemlich abgeschloßen von der übrigen Welt, eingeschloßen in seine Berge.
Im Umgange sind die Waldler offenherzig und im Allgemeinen gerade und schlicht, gegen die Obrigkeit aber zurückhaltend und mißtrauisch. Das letztere kommt hauptsächlich von ihrer Furcht, vor Vermehrung alter oder Einführung neuer Steuern oder Geldleistungen irgend einer Art. Alle Gesetze und Verordnungen beurtheilt er nur nach seinen Geldbeutel. Er geht auf den Sachverhalt nicht tiefer ein, sobald es sich ums bezahlen handelt, später daraus hervorgehender Nutzen wiegt seine vorausgehenden Geldleistungen nicht auf, so klein diese Geldleistungen auch sein mögen. Dies Furcht vor Ausgaben ist übrigens in des Waldlers allgemeiner Sparsamkeit begründet, welche ihrerseits wieder seinen Grund hat in den mühesamen Erwerb und geringen Geldeinnahmen.
Doch wenn der Waldler sich nach Thunlichkeit gegen neue Ausgaben sperrt und in seiner Weise alle Schritte thut, von denen er hofft, daß sie ihn zu einem Ausweg führen könnten, so ist er doch nichts weniger als unfolgsam, sobald er sieht, daß es mit der Ausführung einer obrigkeitlichen Anordnung wirklich Ernst ist.
"Mit Willen wenn's sein muß" ist sein eigenes bezeichnendes Sprichwort. Die herkömmlichen Steuern und Abgaben leistet er pünktlich, nur Veränderungen machen ihn stutzig und mißtrauisch. Was der Waldler einmal für Recht erachtet behauptet er und sei es pfennigswerth mit Ausdauer und Hartnäckigkeit. Vorzüglich sind es Grenzdifferenzen, Wasserleitungen und Servitute, welche ihn zu Proceße reitzen und seiner Proceßlust Nahrung gibt.
Vor Gericht sind die Waldler in ihrer Art höflich, aber nicht kriechend. Kriecherei liegt überhaupt nicht in seinem Charakter. Auch Roheit und Excesse sind des Waldlers Sache nicht. Mit seiner Umgebung lebt er friedfertig und verträglich nur wofern er sich und sein Interesse gefährdet glaubt ist er das Gegentheil. Außer der Proceßlust keine besondere Leidenschaft.
Gegen Arme ist er mitleidig und gibt ihnen gern. Überhaupt ist er gutherzig. Die Treue des Waldlers für ihr angestammtes Königshaus steht auf Felsengrund. In politischer Beziehung hängt er unerschitterlich an der Staatsregierung.
Sein König und seine geliebte Heimath geht ihm über Alles. Er geht auch nicht besonders gerne fort in die Fremde und bekömmt dort häufig Heimweh. Ist er aber einmal unter fremden Leuten, so lernt er etwas Tüchtiges, da er viele gute Anlagen besitzt und kömmt dann sehr gut durch die Welt. Denn sein Fleiß, seine Treue, sowie große Sparsamkeit, die er von Hause her gewohnt ist, machen ihn als Arbeiter sehr beliebt und gesucht. Dienstbothen und Handwerker gehen meist nach München und Wien und von da auch nach Ungarn. Da sie wenn es ihnen gut geht ihren Platz nicht gerne verändern, so werden manche dort ansäßig und kehren dann später noch ein oder das anderemal in ihre Heimath zurück theils aus Liebe zu dieser, theils auch um in ihrer Wohlhabenheit sich sehen zu laßen. Neigung zum studiren ist nicht viel vorhanden, jedoch unter den wenigen Studirten des hiesigen Bezirkes sind größtentheils gute, geschickte Männer geworden. Die Waldler halten sehr an den religiösen Gebräuchen, ohne dabei Frömmler zu sein und man darf es sagen, meist selbst ohne tieferes, religiöses Gefühl. Sie sind der Geistlichkeit vor Allem zugethan, und diese steht bei ihnen in großen Ansehen. Hang zu Mysticismus und Schwärmerei ist nicht vorhanden, wohl aber zu Aberglauben. In letzterer Beziehung ist der Waldlerbauer mit Aberglauben vollgepfropft. Ansprechen, gegen Kröpfe, Warzen, Zahnweh, etc. ist an der Tagesordnung dergleichen Amulette gegen den bösen Feind, gegen Krankheitszustände, Fußleiden etc.

Dies sind die wahrheitsgetreuen Schilderungen in Hinsicht auf Topographie und Ethnographie, soweit als ich selbe seit meiner 27jährigen Praxis im königl. Landgerichtsbezirke Regen, kennengelernt habe.

Regen Ende Mai 1860.
gez. Dr. Brunner
kgl. Landgerichtsarzt.«

Vorhergendes Kapitel Zurück zum Kapitel
"Eheliches Leben"


Quelle u. a. "Staatsbibliothek München"